Published in:Hinterhofgeschichten
2018, Constance
Published by:Annabelle Höpfer
Goethestraße 15: »Der Verursacher«
Als der Klempner Klaus in die Wohnung im dritten Stock gezogen war, hatte er am zweiten Tag beschlossen den Heißwasserboiler selbst anzuschließen. Zu einem anderen Zeitpunkt seines Lebens wäre das Installieren eines Boilers eine Aufgabe gewesen, die Klaus im Schlaf, im Kopfstand und wenn es sein musste, in der Anwesenheit zehn nackter Frauen erledigt hätte, doch kurz vor seinem Einzug war er verlassen und gekündigt worden, an jenem Abend also sehr traurig und auch ziemlich besoffen gewesen und hatte, man kann es nicht anders sagen, riesigen Bockmist fabriziert. Am nächsten Morgen waren sämtliche Stockwerke unter seiner Wohnung geflutet gewesen. Somit auch das alte Büro des Dr. Müller. Doch im Gegensatz zu den anderen Mietern im Haus hatte Dr. Müller — einmal in seinem Leben — regelrechtes Glück gehabt, unter schweren Paranoia, Wahnvorstellungen und Angstzuständen zu leiden, dank denen er ohnehin überall und immer das Schlimmste erwartete. Nichts konnte ihn mehr überraschen, geschweige denn erschüttern und schon vor langer Zeit hatte er sich veranlasst gesehen, entsprechende Vorkehrungen zu treffen. Ein Wasserrohrbruch, der innerhalb einer einzigen Nacht einen geleckten Altbau in einen nassen Pappkarton verwandelt und alle Parteien auf die Straße setzt, war längst überfällig gewesen, ja fast hatte er sich danach gesehnt, dass das Unglück endlich eintreffen würde, um es endlich hinter sich bringen zu können.
Als er dann am Morgen das Treppenhaus hinaufstieg und von einer Pfütze in die andere trat, ständig von wütend telefonierenden Bewohnern und weinenden Hausfrauen angerempelt wurde, da stöhnte er nur verbittert, aber auch irgendwie erleichtert auf. Auch der Verursacher kam ihm entgegen — zutiefst verwirrt, mit einem mords Kater, zwei großen Kratzern auf der Stirn und einem säuerlichen Geruch, der ihm aus jeder Pore drang. Als er Dr. Müller sah, wankte er auf ihn zu, als wäre er gerade aus einem Auto geklettert, dass sich mehrere Male auf einer Landstraße überschlagen hatte. Er stütze sich an Dr. Müllers linke Schulter und blickte ihm stumm in die Augen. Noch nie hatte Dr. Müller so etwas gerochen. Das war der Geruch der Verzweiflung! „Ist schon gut.“, sagte Dr. Müller. „Sind sie versichert?“. Klaus sah ihn an als hätte er etwas sehr lustiges gesagt und fing dann an zu weinen. Er ließ von Dr. Müller ab und stieg langsam das Treppenhaus hinunter. Dieser schüttelte traurig den Kopf und schloss sein Büro auf. Er betrat den langen Flur, von dem es überall von der Decke tropfte. In der Tapete hatten sich dicke Blasen gebildet und die Ecken lösten sich schon ein wenig von der Wand. Die Luft war feucht, kühl und schwer und auf einmal fühlte sich Dr. Müller so wohl wie noch nie in seinem Büro. Er zog die Augenbrauen hoch und stieß ein langgezogenes „Tja-jaaa“ aus, während er durch den Flur in das Arbeitszimmer lief. Das Plitsch-Platsch seiner Schritte übertönte den gedämpften Tumult aus dem Treppenhaus. Dr. Müller zog einen Ordner aus seinem Regal und blätterte ein wenig darin herum. Dann schloss er die Augen und fuhr genüsslich über jede einzelne Seite. Einige lange Minuten stand er so da, zog wahllos, oder vielleicht doch nach einer inneren Ordnung, Ordner aus dem Regal und fuhr über die abgehefteten Dokumente und Schriftstücke. Ein ganzes halbes Jahr, acht Komma vier Stunden am Tag waren drei Sekretäre und eine Sekretärin, damit beschäftigt gewesen, sämtliche Papierstücke in dieser Wohnung einzulaminieren. Sie hatten gejammert, gebettelt und am Ende einer nach dem anderen gekündigt, doch nun stand Dr. Müller in seinem Büro und genoss den Triumph über das Pech, dass ihn schon sein Leben lang verfolgt hatte.
Jetzt sitzt Dr. Müller in seinem neuen Büro im Haus gegenüber.
Aus dem Fenster sieht er in sein altes Büro, durch das täglich Handwerker laufen. Mal rupfen sie an der Tapete herum, mal fahren sie mit Schleifmaschinen über den Boden, doch die meiste Zeit machen sie Pause und vespern Wurstbrote mit ungleichmäßig und meist übermäßig dick geschnittenen Fleischwurstscheiben. Die sieht Dr. Müller ganz genau und er fragt sich wie ordentlich jemand seine Arbeit wohl verrichtet, der schon beim Schneiden der Wurst dermaßen versagt. Dann erklingt aus dem Nebenzimmer das leise Zischen und Klacken der Laminiermaschine und das Husten des neuen Sekretärs und Dr. Müller lehnt sich für einen Moment in seinen Stuhl und lächelt.
Goethestraße 15: »Die Frisur«
In der ehemaligen »Kanzlei C.G. Müller« sitzt der Maler und Tapezierer Roman Moos. Es ist die dritte Wohnung, von der er in dieser Woche die feuchte Tapete zieht. Sie geht ganz leicht von den Wänden, wie abgestorbene Haut nach einem schlimmen Sonnenbrand. Die Kollegen sind irgendwo anders im Haus unterwegs, deshalb denkt sich Roman »Scheiß drauf!« und packt schon vor Feierabend ein Bier und den Rest seiner Mittagsstulle aus. Er beißt genüsslich hinein und freut sich über die dicke Butterschicht, in der er die Abdrücke seiner Zähne hinterlässt. Er kaut und noch bevor er hinunterschluckt, beißt er schon erneut ins Brot. Roman steht auf und geht zum Fenster. Er lehnt sich mit verschränkten Armen auf das Fensterbrett und schaut über den Hinterhof auf das gegenüberliegende Haus. Die meisten Fenster sind durch Gardinen verhängt und dunkel, nur durch ein Fenster sieht er einen älteren Herren über seinen Computer gebeugt. Dünne, graue Strähnen fallen ihm ins Gesicht und während er so unbeherrscht in die Tasten haut, erinnert er Roman irgendwie an einen Pianisten inmitten eines Nervenzusammenbruchs. Roman weiß auch nicht, wie er darauf kommt. Er hat noch nie ein Klavierkonzert besucht und weiß eigentlich auch gar nicht wie man bei einem Nervenzusammenbruch aussieht, trotzdem findet er den Vergleich passend und freut sich. Er lässt den Blick ein Fenster weiter schweifen. Im Zimmer neben dem älteren Herrn, sitzt ein jüngerer und schmächtiger Mann. Statt von vorne nach hinten, trägt er das schütte Haar von rechts nach links frisiert. Roman kennt Männer mit solchen Frisuren. Hinter horizontal gekämmtem Haar versteckt sich immer das gleiche: Eine kugelrunde Glatze und das Unvermögen zu ihr zu stehen. Er sieht genauer hin, doch so sehr er auch seine Augen zusammen kneift, gelingt es ihm nicht zu erkennen, ob der Mann schwarzes, blondes oder graues Haar hat. Es ist farblos. Die Frisur eines gebrochenen Mannes. Roman beobachtet ihn eine Weile und es ist als legt sich ein dicker, schwarzer Mantel über ihn und knöpft ihm die Luft ab, so bedrückend findet er den Anblick dieses Mannes. Auf einmal macht ihn alles traurig: Diese Wohnung, die in Fetzen vor ihm liegt, wie ein zerfleischtes Tier, seine Kollegen die irgendwo in diesem Haus sind und ihn hier alleine gelassen haben — warum sind sie denn ohne ihn gegangen? Ja, selbst sein Wurstbrot kommt ihm traurig vor. Es ist immer das gleiche: Egal wie dick man die Wurstscheiben schneidet, am Ende bleibt immer eine trockene Brotecke, die man so essen muss. Auf einmal steht der Mann auf und steckt den Kopf durch die Tür in das Zimmer des älteren Mannes. Dieser bewegt die Lippen, aber nimmt die Augen nicht von seinem Monitor. Daraufhin verlässt der Mann mit der traurigen Frisur, rückwärts und gebückt den Raum und ist für einige Minuten nicht mehr zu sehen. Roman hört das Quietschen einer Tür und da sieht er ihn wieder, mit einem schwarzen Müllbeutel unten im Hof, der die beiden Häuser verbindet. Langsam schleicht er auf die Restmülltonne zu. Da rascheln auf einmal die Blätter.
Ein scharfer Windzug geht durch den Hof und was als nächstes passiert, geschieht wie in Zeitlupe. Erst flattern ein paar Strähnen über dem linken Ohr und dann, es ist unvermeidlich, hebt sich das Haar und klappt, als wäre es der Deckel eines Buches, auf die andere Seite und entblößt ein dickes, schwarzes — Hakenkreuz. Mitten auf dem glänzenden Haupt leuchtet es, wie ein Helikopterlandeplatz. Da dreht sich der Mann um und schaut Roman direkt in die Augen. Er blinzelt kurz, dann lächelt er und sein Gesicht verzerrt sich zu einer unheimlichen Grimasse.
Wachtelweg 9: “Mariannes Arsch“
Kurti setzt sich wieder an seinen Platz und laminiert weiter. Er schaut in die Wohnung gegenüber, aus der ihn der Handwerker vor ein paar Minuten noch angestarrt hatte, doch das Licht ist aus und die Wohnung wirkt wieder verlassen. Um ihn wird er sich kümmern, wenn es weniger zu tun gibt. Er streicht sich mit der flachen Hand noch einmal über das Haar und erinnert sich, erst als es schon zu spät ist, dass er sich die Hände nicht gewaschen hat. Jetzt hat er Mülleimer-Geruch im Haar. Kurti wird wütend, doch bevor etwas passiert lenkt ihn ein Geräusch ab. Er sieht wieder aus dem Fenster und bemerkt, dass in der Wohnung vom Klaus Licht brennt. Seit Tagen hat er dort niemanden mehr gesehen und Kurti hatte schon gedacht, er sei ausgezogen. Doch jetzt brennt da Licht und er hört ein Geräusch wie ein Jaulen oder ein Japsen, kurz wie ein Grunzen und dann hört er ein „Flaps-Flaps-Flaps“. Jetzt wird es lauter und da sieht er, dass der Klaus zu Hause ist und seine Balkontür offen gelassen hat. Was hatte sich Kurti gefreut als er hier angefangen und festgestellt hatte, dass er mit der neuen Stelle auch einen alten Freund wieder gefunden hatte. Man sieht einen kleinen Ausschnitt des Sofas, das vom Fernseher blau angestrahlt wird und auf dem Sofa sieht man einen riesigen Arsch. Zusätzlich sieht man einen Arm, aber man sieht kein Handgelenk, denn dass steckt, so wie es aussieht, in eben jenem Arsch. »Toll«, denkt sich Kurti »der Klaus hat sich wieder mit seiner Marianne versöhnt.« Das freut den Kurti für den Klaus, denn die beiden kennen sich aus dem Verein. Das heißt Kurti kennt den Klaus von früher, als der Klaus noch im Verein war, doch schon seit ein paar Jahren ist der Klaus nicht mehr dabei, denn vom einen auf den anderen Tag war ihm der Verein nicht mehr gut genug, oder wie er es damals formuliert hatte — »nicht mehr ganz zeitgemäß«. Einige waren damals ziemlich sauer auf den Klaus gewesen, aber Kurti hatte ihn immer gerne gemocht und Verständnis für ihn gehabt, denn er wusste, dass die Marianne nie so ganz einverstanden war mit dem Verein und es deshalb immer wieder zu Streitigkeiten gekommen war zwischen den beiden.
Der Klaus hatte den Verein dann verlassen, bevor Marianne ihn verlassen hätte und wenn Kurti jetzt den großen, runden Arsch von Marianne so betrachtet, dann kann er Klaus Entscheidung sehr gut nachvollziehen. Leider hatte Kurti nie so einen Arsch gehabt und hat ihn immer noch nicht und wird wahrscheinlich niemals in den Genuss eines solchen Arsches kommen, aber er hat ja den Verein. Außerdem, fügt er an seine Gedanken an, sitz der überhaupt allergrößte Arsch, den es gibt auf dieser Wel, immer noch im Zimmer nebenan. »Hahaha«. Kurti lacht laut über diesen gelungen Scherz, und ist gleichzeitig betrübt darüber, dass ihn niemand gehört hat. Doch sofort hält er sich die Hand vor den Mund, denn Dr. Müller jammert in seiner zittrigen alter-Mann-Stimme: »Was haben sie gesagt, Kurti?«. »Ich habe nichts gesagt, Herr Doktor.«, ruft Kurti zurück und lässt zum Beweis die Laminiermaschine laut zischen. Dann hört er wie Dr. Müller weiter seine Tastatur malträtiert und Kurti lehnt sich erleichtert zurück. Dr. Müller tippt, wie andere alte Menschen telefonieren — in einer Lautstärke, der es an jeglichem Maß und Gefühl fehlt. Obwohl Kurti findet, dass Dr. Müller ein verrückter alter Knacker ist, freut er sich diesen Job gefunden zu haben. Er ist ruhig und einfach und niemals passiert etwas Unerwartetes. Mittlerweile ist der ganze Unterarm vom Klaus in Mariannes Arsch verschwunden und Kurti freut sich über den Lauf, den die Dinge manchmal nehmen können.
Goethestraße 15: »Trost«
Roman schreckt vom Fenster zurück. Er reibt sich die Augen und überlegt, ob er wirklich gerade gesehen hat, was er glaubt gesehen zu haben. Das hätte er wirklich nicht gedacht, aber vielleicht waren es ja auch nur ein paar Haarsträhnen die der Wind unglücklich übereinander geweht hatte. Roman tritt an das Fenster und schaut noch mal nach unten, doch der Mann ist nicht mehr da. Jetzt erst merkt Roman, dass er am ganzen Körper zittert und ihm wahnsinnig kalt ist. Er braucht einen Schnaps. Hastig räumt er seine Sachen zusammen und beschließt zu gehen, ohne den Kollegen Bescheid zu geben. Er stürzt ins Treppenhaus und während er nach dem Lichtschalter tastet, hört er Schritte im Treppenhaus. Roman denkt an den durchdringenden Blick des Mannes aus dem Hof und auf einmal steht er stocksteif da und kann sich vor Angst nicht mehr bewegen. Doch dann geht das Licht an und er sieht, wie der Verursacher mit gesenktem Kopf die Treppe hochsteigt. Als er aufblickt und Roman sieht, legt sich ein sanftes Lächeln auf sein Gesicht und irgendwie sieht er aus als wäre er gerade aus trübem Wasser aufgetaucht. Er läuft langsam auf Roman zu, legt ihm die Hand auf die Schulter und sagt »Komm«. Er riecht einen dreifach gebrannten Obstler und Red Bull in des Verursachers Atem, doch Roman gehorcht und folgt ihm in seine Wohnung. Die Männer setzen sich aufs Sofa und schweigen.
Roman weiß nicht warum er hier ist und fühlt sich wie in einem dieser Träume, in denen die seltsamsten Dinge mit einer Selbstverständlichkeit passieren, die es nicht einmal in der Realität gibt. Doch Roman nimmt einen Schluck von dem Bier das ihm der Verursacher in die Hand gedrückt hat und stellt fest: Das ist kein Traum. Der Verursacher macht den Fernseher an und rückt dann näher.
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Published in:NUN Magazine 02
2018, Constance
Published by:Annabelle Höpfer, Miriam Stepper
78467
Herr Jacob war ein unscheinbarer Mann mit einem unscheinbaren Job,
irgendwo im Industriegebiet, in einer der Straßen, in die man niemals
zufällig gerät. Wenn man es recht betrachtet, dachte Herr Jacob, während
er in der Linie 6 auf dem Weg zur Arbeit saß und den Kopf an die Scheibe
lehnte, gibt es im Industriegebiet keine einzige Straße, in die man zufällig
gerät, denn keiner würde auf die Idee kommen, hier her zu fahren, um
sich "einfach mal treiben zu lassen", um "einfach mal verloren zu gehen
und zu sehen wo einen der Wind so hintreibt". Nein, das würde keiner
machen, denn der Wind im Industriegebiet riecht immer ein bisschen nach
Auspuff und schiebt die Leute, die hier nicht wirklich etwas zu tun haben,
eher raus als tiefer rein. Ins Industriegebiet fährt man mit einem genauen
Ziel, das man in die Karten-Applikation seines Telefons eingibt und auf dem
kürzesten Weg erreicht, ohne Umwege. Viele Leute fühlen sich nicht
besonders wohl hier. Die sehen den vielen Beton, die Autos und die
niedrigen, flachen Dächer und stellen das alles, in ihren Köpfen, neben die
Pflasterseine aus der Niederburg oder die hübschen Häuschen mit
Türmchen im Paradies, und ja, naja, sagen wir, eine Misswahl würde das
Industriegebiet nicht gewinnen. Aber Herr Jacob gab nicht so viel auf
Äußeres. Ihn erinnerte das Industriegebiet an seine Mutter. Sie hatte ihn
und seinen kleinen Bruder alleine groß gezogen, viel und hart gearbeitet
und sich selten beschwert, doch wenn sie abends nach Hause kam, sah er
ihr die ganze Last an, die sie vom einen Tag in den nächsten schleppte. Sie
hatte keine Zeit gehabt, um oft zum Frisör zu gehen und nie viel Geld, um
sich elegante Kleidung zu leisten. Doch für Herrn Jacob war sie die
schönste Frau der Welt gewesen, die stärkste und auch die beste im
abends Zudecken. Auch das Industriegebiet arbeitet hart, nur leider
erkennt nicht jeder seine Schönheit. Ja, wenn Herr Jakob hier her fuhr,
fühlte er sich immer ein bisschen zugedeckt.
Der Bus war der beste Ort, um in Gedanken zu versinken. Das leichte
Ruckeln, das tiefe Brummen des Motors und die Landschaft, die vorbeizog,
wie in einem Stummfilm, wirkten so beruhigend auf Herrn Jacob, dass er
fast vergaß auszusteigen. Er schreckte gerade noch rechtzeitig auf,
schnappte seine Tasche und hoffte, dass keiner den Abdruck an der
Scheibe entdecken würde, den seine Haare hinterlassen hatten, als er den
Bus verließ.
8280
Der Emmishofener Zoll ist schon seit ein paar Jahren nicht mehr in Betrieb,
doch als noch Tag für Tag Schweizer und Deutsche über die Grenze fuhren,
da ereignete sich an einem Dienstag Mittag ein eigenartiger Vorfall, von
dem, in Kreisen der Zollbeamten, Jahre später behauptet wurde, dies sei
der ausschlaggebende Grund gewesen, für die Stilllegung des Zolls. Roland
Böckli stand neben seinem Zollhäuschen, winkte sorgfältig die Autos
hindurch und hielt hin und wieder auch eins an. Nicht weil ihm wirklich
etwas verdächtig vorgekommen wäre, sondern weil er ganz genau wusste,
dass in dem kleinen Gebäude mit den dunklen Scheiben gegenüber, sein
Vorgesetzter saß, der ihn beobachtete und für den es nichts Verdächtigeres
gab als Unverdächtiges. Während Roland Böckli also dastand, an diesem
lärmenden Strom der durch den Zoll hindurchfloss, wie der Rhein, nur aus
Blech und mit einer höheren Schadstoffbilanz, da sah er auf einmal wie
sich auf der deutschen Seite ein blauer Passat mit thurgauer Kennzeichen,
einreihte. “Sehr verdächtig”, murmelte er. Als es so weit war, winkte er
ihn auf die Seite. Er trat an das Auto und wartete darauf, dass der Fahrer
die Scheibe herunterließ. Mehrere Augenblicke vergingen, doch nichts tat
sich. Roland Böckli zögerte, dann klopfte er zaghaft gegen das Fenster —
nichts. Er trat einen Schritt zurück und versuchte, etwas durch die
getönten Scheiben zu erkennen. Langsam wurde er nervös. Bis zu diesem
Moment hatte er das Arbeitsrisiko seines Berufstandes für sehr gering
gehalten. Natürlich, an anderen Grenzen, zwischen anderen Ländern, sieht
die Lage für Zollbeamte wieder ganz anders aus, viel gefährlicher,
natürlich, doch an der Grenze zwischen Konstanz und Kreuzlingen, im
Gräbele des Doppelbettes dieser deutsch-scheizerischen Ehe, da hatte er
sich immer sicher und geborgen gefühlt. Doch in diesem Moment, vor
diesem äußert verdächtigen Fahrzeug, da bekam er es auf einmal mit der
Angst zu tun. Roland sah über seine Schulter und versuchte angestrengt
Blickkontakt mit einem seiner Kollegen herzustellen. Er sah zu Helge, der
über einem Stapel Ausfuhrscheine gebeugt saß und sich an der Stirn
kratze, dann sah er zu Rolf, der gerade einen riesigen Flachbildfernseher
inspizierte und dann rüber zu Tommy, der gedankenverloren auf einem
Klemmbrett herum kritzelte. Roland pfiff und Tommy sah auf. Gemeinsam
standen sie nun vor dem Wagen und berieten sich. Sie waren zwei
erfahrene Beamte, diese Situation würden sie alleine lösen, ohne
Verstärkung. Tommy klopfte Roland auf die Schulter. “Nur Mut!” Dann
legte Roland die Hand auf den Türgriff, atmete einmal tief ein und aus,
dann öffnete er die Tür.
Einen ganzen Nachmittag hatten sie den Wagen durchsucht. Aus beiden
Ländern hatte man Techniker rufen lassen, die Spurensicherung und dann,
vor lauter Hilflosigkeit Zeugenaufrufe per Flugblatt im ganzen
Bodenseeraum verteilt. Doch der Sachverhalt konnte nie aufgeklärt
werden. An jenem Dienstag Mittag hatte Rudolf Böckli die Fahrertür
geöffnet und die beiden Beamten hatten ein leeres Auto vorgefunden.
Niemand hatte darin gesessen. Es gab nichtmal Anzeichen, dass jemals
jemand darin gesessen hatte. Nur von außen, war das Fahrzeug mit
Schlamm bespritzt. Es hatte einige tiefe Dellen auf dem Dach, als wäre es
erst kürzlich einem Hagelschauer ausgesetzt gewesen, obwohl es in den
letzten zwei Jahren, kein einziges Gewitter in der Region gegeben hatte.
Den Motor ließen sie eine Woche später bei einem KFZ-Mechaniker in
Villingen-Schwenningen ausbauen, der lediglich herausfand, dass es sich
um einen 4A handelte, der wohl zwischen den Jahren '88 und '89 verbaut
wurde. Der Mechaniker hatte mit der Schulter gezuckt und den
enttäuschten Ermittlern erklärt: "So oiner fährt ed alloin. Ned mol
meddrem Gaul vorne dran." Die Beamten und deren Vorgesetzte hatten
den sonderbaren Vorfall mehrere Monate untersucht, doch niemand kam
zu einem Schluss, wie es ein Auto ohne Insassen bis an die Grenze
geschafft hatte. Und wie das in Beamtenkreisen so ist, führte die eine
Leerstelle zur Nächsten, zu Unstimmigkeiten in den Akten, zu Ärgernissen
die zu größeren Ärgernissen führten und schließlich zur Schließung des
Emmishofener Zolls. Roland Böckli gab den Dienst an der Grenze auf und
übernahm die Fischerei seines Vaters in Bottighofen. Noch heute sieht
man ihn manchmal vom Ufer aus, wie er in seinem Boot hinaus auf den
See rudert, Netze auswirft und Stunden auf dem Wasser verbringt. Selbst
wenn sie längst wieder eingeholt sind, schippert er noch weit hinaus,
dorthin, wo der See die Grenzen der Länder verschwimmen lässt, dort, wo
sie ineinander übergehen.
78464
Nun war es doch so weit gekommen. Simone Nägele hatte von ihrem Arzt
verschrieben bekommen, was sie so viele Jahre versucht hatte
hinauszuzögern: Sport. Mit hochgezogenen Augenbrauen und einem
leichten Kopfschütteln hatte Dr. Wieland ihr ihre Cholesterin-Werte
vorgepredigt und sie darauf hin, nicht wie sonst, in die Apotheke geschickt
sondern auf direktem Wege zu Karstadt in die Sportabteilung. Dort ließ sie
sich nun von einem jungen überambitionierten Kerl, mit strammen
Oberschenkeln erklären, dass es für jede Sportart den richtigen Schuh gibt,
dass man beim Kauf keinen Fehler machen dürfe, dass mit der Sohle alles
steht und fällt. Was er mit "alles" meine, wollte sie wissen und stellte fest,
dass er das auch nicht so genau wusste. Der stramme Verkäufer lächelte
hilflos. "Für welche Sportart interessieren sie sich denn?", fragte er sie.
Simone überlegte kurz. Auf keinen Fall würde sie eines dieser Fitness-
Zentren betreten, in denen es nach einer Mischung aus Skikeller und
Selbsthass roch und wo diese furchtbare elektronische Musik lief, jenes
gefühlskalte Genre, was selbst die Hölle einfrieren lassen würde, käme man
dort auf die Idee, ein McFitt zu eröffnen. Nein nein. Der Verkäufer sah sie
fragend an und Simone entschied sich spontan fürs Joggen. Da ist man
wenigstens für sich und an der frischen Luft. Außerdem hatte sie gehört,
dass sei schlecht für die Gelenke. "Dann hat der Mistkerl von Arzt noch
mehr mit mir zu tun.", dachte sie und entschied sich für ein Paar, das laut
dem krampfhaft zwinkernden Verkäufer “extra, nur für sie" im Angebot
war. Noch am selben Abend lief sie die Seestraße entlang. Von "joggen"
konnte man beim besten Willen noch nicht sprechen. Sie ruderte mit den
Armen, so, wie das die schnatternde Horde Mädchen vor ihr tat, doch
schon bald wurde sie von einem älteren Ehepaar überholt, das Hand in
Hand einen Dackel ausführte. Sie konnte weder sprechen, geschweige
denn atmen, nur in Gedanken fluchte sie wie ein Rohrspatz. Sie war noch
nicht am Jachthafen angekommen, da spürte sie ein derartiges Stechen in
der Seite, dass sie sich an einem Baum abstützen musste. "Das reicht!",
keuchte Simone Nägele und rief ihren Mann an, Bernhard Nägele.
Während sie auf ihn wartete, setzte sie sich auf eine Bank, steckte sich
eine Zigarette an und beobachtete wie die leuchtende Fähre in den Hafen
einfuhr. Als sie zu Bernhard in den Wagen stieg, gab sie ihm mit einem
Blick, wie sie nur Ehefrauen ihren Männern zuwerfen können, zu
verstehen, dass keinerlei Kommentar erwünscht war. Sie fuhren über die
alte Rheinbrücke und Simone blickte zur Seite in das tiefe Schwarz.
Erschöpft ließ sie sich in den Sitz sinken und schloss die Augen. Dr. Wieland
hatte tatsächlich recht. Bewegung tut gut.
Published in:Tippgemeinschaft
2019, Leipzig
Published by:Deutsches Literaturinstitut Leipzig
Die Wildschweine
Letzten Herbst wüteten die Wildschweine. Mit ihren dreisten Schnauzen plünderten sie die Mülltonnen und zerstörten die Vorgärten. Am späten Abend saßen die Menschen an ihren Fenstern und beobachteten, gelähmt durch einer Mischung aus Furcht, Ekel und Wut, die stinkenden und schmatzenden Tiere. Am nächsten Tag fand in der örtlichen Mehrzweckhalle eine Versammlung statt. Die Leute ballten die Fäuste, brüllten laut und schimpften so bitterlich, dass einige in Ohnmacht fielen. Ein leichter Nieselregen aus Speichel setzte ein und die Leute, grummelnd Rache schwörend, aber nunmehr für sich, verschoben die Versammlung auf einen anderen Tag, denn trotz ihrer Wut verstanden sie, dass sich die Gemüter erst beruhigen mussten, bevor man einen Plan würde ausarbeiten können. In den Tagen darauf vergaßen sie jedoch die Wildschweine, denn sie kamen nicht mehr wieder und das Thema hatte sich erledigt. Nur Linda dachte von nun an ständig an die Schweine. Wie alle anderen, war sie hinter ihrem Wohnzimmerfenster gesessen und hatte auf die Tiere gestarrt, die sich einen Vorgarten nach dem anderen vorgenommen hatten. Nicht ablehnend, wie die Anderen, sondern voller Bewunderung, Hochachtung, ja, man könnte sagen, voller Erregung. Ein dicker, borstiger Eber hatte es ihr besonders angetan. Einen Moment lang hatte er ihr in die Augen geschaut, herausfordernd und stolz, während er mit Eckzähnen wie Säbel, einen gelben Sack aufriss. Anstatt seine Schnauze in den Müll zu stecken grunzte er nur und drehte sich weg. Ohne auf die anderen Schweine zu achten, lief er zurück in den Wald. Ein Schwein quiekte laut auf, ein anderes ebenfalls, bis alle Schweine miteinander quiekten und dem dicken Eber zurück in den Wald folgten. Seit dem dachte Linda jeden Tag an die feucht-dampfende Nase des Ebers, an seine strammen Beinchen und an jene schwarzen, glanzlosen Augen, bis sie eines morgens, in den Wald ging und nach den Schweinen suchte. Etwa eine halbe Stunde lief sie umher, dann fand sie frische Hufspuren im Waldboden, zertrampelte Sträucher und verdächtige Bisspuren in den Baumrinden. Sie mussten ganz nah sein, dachte Linda noch, dann spürte sie warme Luft im Nacken. Sie drehte sich um. Jetzt, da sie ihn so vor sich sah, wirkte er noch viel größer. Der Eber überragte sie mindestens um einen Kopf. Er scharrte mit den Vorderhufen, doch Linda rührte sich kein bisschen und blickte ihm fest in die Augen. Sie hatte nichts mehr zu verlieren, also tat sie weshalb sie gekommen war. Sie streckte ihre Hände nach der feuchten Schnauze aus und berührte sie mit den Fingerspitzen. Mit dem Zeigefinger der linken Hand drehte sie sanfte Kreise um die Nasenlöcher, mit der rechten Hand strich sie über seine Stirn, die sich anfühlte wie Sperrholz. Der Eber atmete gleichmäßig. Linda knöpfte ihre Hose auf, streifte sie ab, die Unterhose auch, zog ihre Bluse aus und dann den BH. Langsam schritt sie um den Eber und drückte ihren Körper an seine Flanke. Erst rieb sie ihre Brüste an seinen Borsten, dann ihren Arsch. Der Eber grunzte laut. Sie krallte sich an einem Büschel langer Borsten hinter seinen Ohren fest und schwang sich mit einem Satz auf seinen Rücken, begann auf ihm zu wippen, als würde sie ihn zum Trab auffordern, doch der Eber bewegte sich nicht von der Stelle. Sie wippte vor und wippte zurück, wippte mal langsamer, mal schneller, bis sie auf einmal ihren Kopf in den Nacken warf und ein unmenschliches Quieken ihren Mund verließ. Langsam beugte sie sich nach vorne und glitt vom Rücken des Ebers herab. Sie krabbelte vor seine Schnauze und blickte ihm noch einmal tief in die Augen. Der Eber nickte, dann drehte sich Linda um. Auf allen vieren kniete sie vor ihm und wartete.
Von diesem Tag an, war Linda Teil der Wildschwein Gruppe. Sie kündigte ihre Arbeit und verließ ihren Freund ohne große Erklärungen. Im Frühjahr gebar sie dem Eber sieben Frischlinge mit dem typischen gescheckten Fell der Wildschweinkinder und den kurzen, spitzen Nasen der Menschenkinder. Drei von ihnen hatten allerdings menschliche Hinterbeine, an deren Enden kleine verhornte Stummel wuchsen, die nicht im geringsten etwas mit Füßen zu tun hatten und noch viel weniger mit Tierhufen. So wie das im Reich der Wildschweine üblich war, fraß Linda nach der Geburt jene Frischlinge, die mit Abnormitäten auf die Welt gekommen waren.