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Eine nach
der Anderen

Recherche


Mit neun Jahren grub Rolando Ramírez aus dem Garten seiner Eltern Silvana und Santiago Ramírez, das Gemüse aus, das er auf der ganzen Welt am meisten hasste: Rote Beete. Er stellte sich der Herausforderung, so lange in der Küche herum zu probieren, bis sie ihm schmeckte. Vor seinem inneren Auge rief er sämtliche Gerichte auf, die er gerne aß und fand nach sorgfältigem nachdenken heraus, dass jede einzelne seiner Lieblingsspeißen der aufregende Kontrast verband, der entstand, wenn man die Hauptzutat aus ihrem geokulinarischen Kontext herausriss und in einen komplementären einpflanzte. Also setzte er sich an den Computer seines Vaters und googelte das Herkunftsland der Rote Beete. Das Ergebnis war zwar nicht so ganz eindeutig, wie das Meiste was man im Internet fand, aber so in etwa kam die Rote Beete aus dem Mittelmeerraum, sagen wir Nordafrika. Rolando öffnete einen weiteren Tab und gab »das Gegenteil von Nordafrika« ein. So mehr oder weniger kam Japan heraus. Also gut, dachte sich Rolando und warf eine Knolle in kochendes Wasser. Er wartete etwa eine Stunde, dann war sie weich. Mit einem Sparschäler schälte er ungefähr vier Zentimeter breite und zehn Zentimeter lange Streifen herunter und ordnete sie auf einem Brett untereinander an. Aus dem Vorratsschrank zog er eine Tüte Instant-Reis von »Uncle Bens« hervor, goss kochendes Wasser darauf und öffnete eine Dose Tunfisch. Aus dem Reis, dem Tunfisch und den Rotebeete Streifen rollte er sechs perfekte Makis. Da wo er den Sparschäler her hatte, fand er auch zwei Essstäbchen. Gekonnt klemmte er das erste Rote Beete Maki zwischen die Stäbchen und schob es sich in den Mund. Rolando war zufrieden. Als er beim vierten Maki angelangt war, bemerkte er die ersten roten Pusteln auf seinem Unterarm, dann wurde das Luftholen schwieriger. Das fünfte Maki schaffte er noch, das sechste blieb übrig.

Das Spiel


An der Schule San Fernando de Cristóbal gab es drei Sorten von Lehrern: Einmal die Hübschen, in die jeder Schüler verliebt war, dann die Strengen, die nur einmal schauen mussten und alles saß zitternd an seinem Platz und es gab jene wehrlose Art von Lehrer, die sich nicht erklären konnte, wie, um alles in der Welt, sie hatten denken können, ausgerechnet der Klassenraum sei der richtige Platz für sie. Was die Schüler den Schönen und den Strengen nicht antun wollten, ergoss sich Tag für Tag über der dritten Sorte Lehrer. Das Lieblingsspiel der Schüler war »Schnip-Schnap«. Wenn Señora Camilla Rodriguez Veléz während Stillarbeiten durch die engen Reihen ging und einem der Schüler über die Schulter sah, versuchten die Schüler, hinter oder neben ihr, mit ihren Bastelscheren so viele Stücke wie möglich von ihrer Kleidung abzuschneiden. Clarita war Klassenbeste der 5c und »Schnip-Schnap«-Meisterin. Eines morgens, als sich Señora Rodriguez Veléz zu einem der stilleren Schülern herunterbeugte, um ihm mit einer Satzkonstruktion zu helfen, da stürzte sich Clarita auf Señora Rodriguez Veléz und schnitt ein langes Stück ihrer geflochtenen Haare ab. Sie streckte das Büschel wie eine Trophäe in die Luft und schrie »SCHNIP-SCHNAP«. In der Vergangenheit hatte Señora Rodriguez Veléz dieses Spiel über sich ergehen lassen, müde, wie ein Fisch im Aquarium, der genau weiß, dass er vom Leben nicht mehr und nicht weniger zu erwarten hat, als die immer gleichen Runden zu drehen. Doch an diesem Morgen hatte ihr ein Kollege in der Lehrerküche seine Liebe gestanden und ihr zu neuem Selbstbewusstsein verholfen. Sie drehte sich blitzschnell um, riss Clarita die Schere aus der Hand, packte ihr kleines Handgelenk und setzte die Schere an den Daumen. »Schnip- Schnap«, sagte sie und neigte den Kopf zur Seite. Die Schere glitt durch die zarte Haut wie durch Butter.

Geburtstag


In der Feuerwehrwache Caballito III wurde Alarm ausgelöst und Lt. Carlos Andrés Bellavista schlug die Augen auf. Er hatte geschlafen wie ein Toter, nichts geträumt und fühlte sich wach und erholt. Er, seine Kollegen Pelu, Zelmar und die Brüdern Rojas, die an diesem Tag Geburtstag hatten, zogen sich die Ausrüstungen an und stiegen in den Wagen. »Na dann sehen wir mal, wie schnell wir eure Geburtstagskerze ausgepustet bekommen«, scherzte Zelmar und bog in die Avenida Rivadavia. Während er das sagte, drehte er den Kopf leicht nach hinten zu den Bürdern Rojas, die von der Truppe Geburtstagsküsse entgegen nahmen. Carlos lachte laut über diesen gelungenen Scherz und flog dann mit dem Kopf voran durch die Windschutzscheibe. Pelu wurde in den Bauch des Wagens geschleudert und brach sich das Genick an einer der Gasflaschen und die Brüder, die sich gegenüber gesessen hatten, knallten gegeneinander und waren auch sofort tot. Nur Zelmar lebte noch ein bisschen länger. Ungefähr so lang, bis der Rettungswagen an den Unfallort kam und ihn einer der Sanitäter aus der Fahrerkabine zog. Dann löste sich die Glasscherbe, die sich in seine Aorta gebohrt hatte und innerhalb von wenigen Sekunden war er verblutet. Ein halbes Jahr hatten die Polizeibeamten und die Feuerwache Caballito III gemeinsam versucht zu rekonstruieren, wie es zu diesem Unfall hatte kommen können. Mehrere Male waren sie an den Unfallort zurückgekehrt, hatten Zeugen gesucht und Überwachungsbänder ausgewertet, doch sie kamen zu keinem Schluss. Der Wagen war weder von der Straße abgekommen noch in irgendein anderes Fahrzeug gerast. Die Rivadavia war zu dieser Uhrzeit wie leergefegt gewesen. Seltsam. Sehr seltsam«, murmelte Lt. Fernández und kratzte sich dabei an der Stirn. Der Fall wurde zu den Akten gelegt und nie gelöst.

Die perfekte Stelle


Auf dem Dach der Casa Arze, saßen Diego Sosa und El Conejo. Mit freiem Oberkörper hämmerten sie auf den Dachlatten herum. Die Sonne brannte den beiden Männern auf die Bäuche und dicke Schweißperlen rannten ihnen über die Stirn. El Conejo hatte den Namen seinen Ohren zu verdanken. Sie waren ungeheuer lang und rund, als hätte man ihn als Kind zu oft daran gezogen. An diesem Tag hatte er besonders gute Laune. Er schwatze und lachte über die dämlichsten Dinge und entblößte dabei immer wieder seine schiefen, gelben Zähne. Auf einmal bekam er Hunger. Er steckte die Hand in die Hosentasche, wühlte ein bisschen, zog dann ein zerknittertes Kaugummipapier heraus und zwanzig Pesos. Den Hammer in den Hosenbund geklemmt, kletterte er die Leiter herab, lief zum Laden und kaufte sich dort zwei Empanadas mit Käse und Schinken. Er beschloss ein paar Schritte zu laufen und machte sich auf, in Richtung Strand. Die Empanadas aß er im gehen. Am Strand setzte er sich auf einen Stein und grub den einen Fuß ein, indem er mit dem anderen Sand darauf schaufelte. Einen beachtlichen Berg hatte er geschaufelt. Er staunte über sich selbst und genoss das Gewicht des Sandes auf seinem Fuß. Ganz langsam bewegte er seine Zehen und kicherte ein wenig als der Sand hindurch rieselte. Ein Mädchen lief am Wasser entlang. Sie war jung, sicher noch keine sechzehn, das sah er, denn sie war sehr dünn, wie ein gerader Strich im rechten Winkel zum Horizont. Sie hatte braune Haare, die auf ihrer Schulter aufsetzten und bei jedem Schritt wippten. Sie trug einen rosa Rucksack und hielt ein Buch in der Hand, als hätte sie die perfekte Stelle schon in Sicht. Doch sie lief immer weiter und machte keine Anstalten sich irgendwo nieder zu lassen. Die perfekte Stelle war wohl doch wo anders. El Conejo wollte wissen, wo die war. Er lief zum Wasser, dem Mädchen hinterher.

Ein Tag


Seit dem Libertad denken konnte, war sie in Eile gewesen. Jede einzelne Faser ihres Körpers wurde von einer Rastlosigkeit angetrieben, die ihr Leben bestimmte. Libertad raste von einen Ort zum nächsten, immer in der Annahme, nein, es war eher wie ein innerer, natürlicher Trieb, es warte etwas besseres auf sie, dass sie in all der Zeit, die schon vergangen war, jedoch einfach nicht zu finden schien. Wie jeder der in ein gewisses Alter gekommen war, hatte auch sie versucht herauszufinden, was der Sinn des Lebens, ihres Lebens war. Die meisten ihrer Freundinnen hatten scheinbar eine Antwort darauf gefunden. Meistens, so befand sie, waren das jedoch keine wirklichen Lösungen, sondern das reine Abfinden, die Kapitulation, vor der Undurchdringlichkeit des Schicksals, das jene Antworten, mit denen man wirklich etwas anfangen könnte, nicht heraus rücken wollte. Einige besuchten Workshops von dubiosen »Livecoaches«, die ihnen den letzten Groschen aus den Taschen zogen, andere suchten die Antworten in halluzinogenen Substanzen. »Alles Quatsch!«, dachte sich Libertad. Groß etwas an ihrem Leben verändern, würde eine Gewissheit sowieso nicht. Sie sah keinen Sinn darin, weiter nach dem Sinn zu suchen. Es war doch eigentlich allen klar, dass sie sowieso nur einen Tag zu leben hatten und dann war Schluss. Was soll man da noch groß verändern? Insgeheim hegte sie das Vertrauen, dass sich früher oder später schon alles fügen würde. Glücklich über diese selbst gewonnene und dazu noch kostenfreie Einsicht, bog sie um eine Ecke. Sie legte einen Zahn zu und flog mit voller Wucht gegen die Windschutzscheibe eines Opel Corsas, dessen Fahrer gerade mit seiner Tochter telefonierte. Vier lange Quadras dauerte es, bis man Libertads leblosen Köper bemerkte. Dann schaltete Señor Azambuja die Scheibenwischer an.

Dirty Spielchen


Timmi starrte in die Flamme und stellte sich selbst vor, wie er so da saß und in die Flamme starrte. Er sah sein Gesicht, die helle Haut, die langen Wimpern, wie die eines Pferdes und die Flamme, die sich in seinen Augen spiegelte und das Weiße darin zum Flackern brachte. Die Nase warf einen leichten Schatten auf seine rechte Gesichtshälfte, als wäre sie der Zeiger einer Sonnenuhr, die drei Uhr am Nachmittag anzeigte. Er streckte seine Zunge aus und berührte damit den Docht. Es zischte ganz angenehm und die Flamme erlosch. Dann schnipste er mit den Fingern und der Docht entzündete sich wieder. »Diese Technik...«, staunte er. Wieder hüllte sich sein Gesicht in warmes Gelb, wieder führte er es ganz nah zur Flamme. Ein Lüftchen wehte zum Fenster herein, so seicht, Timmi spürte es kaum, doch die Flamme neigte sich im Windstoß zu ihm und umgarnte seine Nasenspitze, schmiegte sich sanft an sie. Diesmal ein leises Knistern. Winzige Härchen, krümmten und kräuselten sich und lösten sich in Luft auf. »Mhmmmmm«. Seine Stimmbänder vibrierten genussvoll. Er hob das Kinn an und mit einem Mal stülpte er sein rechtes Nasenloch über die Flamme. Sie brannte noch kurz, schlug aus, nach links und rechts, gegen Nasenflügel und -scheidewand und erlosch dann wieder. Timmi schloss die Augen. Durch den Mund atmete er aus, durch die Nase atmete er ein. Er schnipste, die Flamme entzündete sich, loderte leidenschaftlich in ihm, erlosch nach wenigen Sekunden wieder und Timmi schnipste. Immer wieder und immer wieder und die Flamme wand und schlug um sich in seinem Nasenloch. Dann erhob sich Timmi, kramte in der mittleren Schublade seiner Kommode und zog ein Sprühdeo heraus. Er setzte sich wieder vor die Flamme. Er hielt das Deo auf Augenhöhe und zielte auf sich selbst. Die Flamme flackerte friedlich zwischen seinem Gesicht und dem Sprühkopf, dann drückte er ab.

Liebe im Treppenhaus


»Lass das doch!«, rief Pancho aus seinem Fernsehsessel in den Flur. Zwar konnte er Auria nicht sehen, doch in all den Jahren die sie nun verheiratet waren, reichte ein leises Rascheln oder ein bestimmtes Knacken aus und er wusste sofort was Auria tat. In diesem Moment drückte sie ihr Auge an den Türspion und beobachtete wie der Nachbar von Gegenüber seine Einkäufe in die Wohnung brachte. Pancho rollte die Augen und wechselte den Kanal. Dann hörte er zaghafte Schritte und seine Frau stand im Raum. Der Nachbar hätte herüber geschaut, berichtete sie. Sicherheitshalber hätte sie noch einmal abgeschlossen. Ob sie wirklich meine, dass das nötig sei? »Jaja«, antwortete Auria. Er hätte wirklich seltsam herüber geschaut. Am Abend gingen Pancho und Auria zu Bett. Pancho schlug ein Buch auf, schlief dann aber ein, noch bevor er am Ende der ersten Seite angelangt war. Nacho war um zwei Uhr morgens aufgewacht, weil er vergessen hatte das Licht auszuknipsen. Er hatte Schwierigkeiten wieder einzuschlafen. Sie beobachtete ihn wieder, da war er sich sicher. Lange Jahre wohnten sie schon zusammen auf diesem Stockwerk — er wusste, wenn sie wieder am Spion stand. Tagsüber starrte sie durch ihren eigenen, beobachtete ihn dabei wie er die Einkäufe hinein trug, oder Besuch empfing, doch nachts, das wusste Nacho, drehte sie den Schlüssel in ihrem Schloss herum, öffnete leise ihre Wohnungstür, trat auf den Gang und schritt leise an seine Tür. Als spürte er es auf der eigenen Haut, presste sie die flachen Hände auf das Holz und drückte das Auge gegen das kühle Messing. Wenn sie sah, dass in der Wohnung kein Licht war, dann scharrte sie ihre Füße auf der Fußmatte und ging wieder zurück in ihre Wohnung. Doch wenn das Licht an war, dann blieb sie lange so stehen und starrte durch das Loch an seiner Tür.

Vorfall in der Wüste


Franco Ulloa war ein Geschäftsmann und raste mit seinem Sportwagen die Panamericana entlang, in den Norden des Landes. Die Nacht hatte er in einem Motel an der Straße verbracht. Er mochte diese kleine Motels. So hatte er sich als kleiner Junge, wenn er mit Flüssigkleber seine Haare nach hinten frisierte, sein späteres Leben als Geschäftsmann vorgestellt: Schnelle Autos und Motels — wie in amerikanischen Liebesfilmen, die jedes Mal auf unerwartete Weise zu Horrorfilmen werden, immer dann, wenn der Geschäftsmann seine neue Freundin im Bett warten lässt, um Eis für den Champagner auf dem Gang zu holen. Franco bereitete sich innerlich auf seinen Termin vor. Er prüfte seine Frisur und drückte noch ein bisschen fester aufs Gaspedal. Außer ihm war niemand auf der Straße. Nur in der Ferne sah er die verschwommene Silhouette eines Kombis. Als er dicht hinter ihm war und zum Überholen ansetzte, wechselte der Fahrer auf die Gegenspur. Franco hupte fünf Mal, doch am Ende musste er bremsen. Ihn packte eine Wut, wie sie nur Autofahrer packt. Er riss das Lenkrad herum und überholte auf dem Schotter. Er ließ das Fenster herunter und hatte seinen Mittelfinger noch nicht ganz aus aus dem Auto gestreckt, da überkam ihn ein furchtbarer Schreck. Erst dachte er, es sei eine Einbildung, doch dann sah er erneut in den Wagen und stellte fest, an dem Steuer saß — ein Hase. Ein großer Feldhase mit enormen Ohren lenkte das Auto. Er sah nicht auf die Straße, sondern blickte ihn sekundenlang aus kalten, schwarzen Augen an. Franco war wie gelähmt. Dann kam er zu sich, gab Gas und sauste erschrocken davon. Sein Herz raste, doch bald war der Kombi verschwunden und der Hase vergessen. Die kleinen Scherze der Wüste. Nach zwei Stunden hielt er an einer Raststätte. Und während er so am Pissoir stand und sich erleichterte, da hörte er wie, ganz langsam, die Tür aufging.

Meisterwerk


Adolfo »Mozár« Chomñalez Prestes trat vor den Spiegel und rieb sich Pomade in sein Haar. Er überlegte eine Weile, dann entschied er sich für den Kamm in Hornoptik, der mit den gröberen Zähnen. Bahn für Bahn führte er ihn über den Kopf. Am Hinterkopf, dort wo keine Pomade ankam, lockte sich das blonde Haar. Er verließ das Badezimmer, lief durch den schmalen Flur und betrat dann das Musikzimmer, in dem ein schwarzer Flügel der Marke Yamaha stand. Jedes Glied seiner langen dünnen Finger war durch knubbelige Gelenke verbunden, sodass es schien, als würden kleine Äste über die Tasten des Klaviers gleiten. Mozár war das perfekte Beispiel dafür, dass man nicht schon mit vier Jahren ein Virtuose sein muss, um einen gewissen Bekanntheitsgrad zu erlangen. Mit zweiundvierzig Jahren hatte er das Klavierspielen erlernt und schon nach zwei Jahren spielte man seine Werke in den größten Opern des Landes. An diesem Tag komponierte Mozár ein neues Stück, das der Intendant des Teatro Colóns in Auftrag gegeben hatte. Schnell hatte er einen Anfang gefunden und dann einen dramatischen Höhepunkt. Nur das Ende wollte ihm nicht gelingen. Er spielte ein »dis« und verzog daraufhin das Gesicht. Er knackste die Finger und schlug ein »fis« an. Schon wieder nichts. Mozár versuchte es noch ein paar mal mit anderen Noten, dann schob er den dunkelgrünen, mit Samt überzogenen Hocker zurück, erhob sich, schritt auf einen Wandschrank zu und öffnete die Tür. Zwischen den Krawatten hing ein großes Küchenmesser und unter seinen Fracks lag zusammengekauert ein junger Mann, ohne Kleidung, übersät mit tiefen Schnitten. Mozár stieß dem Mann das Messer zwischen die Rippen. Ein markerschütternder Schrei hallte durch den Raum. »Aha. Das ist sie!«, sagte Mozár und schloss den Schrank. Er setzte sich zurück ans Klavier und komponierte ein neues Meisterwerk.

Liebe während der Weltmeisterschaft


Da das Fortpflanzen nach dem Schlüssel-Schloss-Prinzip schon im Jahr 2317 verboten wurde, hatten sich die Geschlechtsorgane und damit auch alle anderen äußerlichen Merkmale, die das weibliche Geschlecht vom männlichen trennten im 49. Jahrhundert, evolutionsbedingt, vollständig zurückentwickelt. Es hatte eine weltweite Sprachreform gegeben, die die Geschlechtertrennung aus allen Sprachen der Menschheit gelöscht hatte und weitestgehend in allen Bereichen, privaten wie auch beruflichen auf natürlichste Weiße griff. Nur in der Welt des Fußballs, da war alles beim Alten geblieben. Im Jahr 4990 fand die 764. Fußball WM der Männer statt. Zwar hatte die Bezeichnung »Mann« überhaupt keine Bedeutung mehr, doch aus nostalgischen Gründen behielt man den Begriff bei. Die einzige Veränderung, die es in diesem Sport gegeben hatte, war modischer Natur. Die Spieler trugen nun besonders eng anliegende Fußballhosen, da es nichts mehr gab, das sich auf obszöne Weise hätte abzeichnen können. Die ersten Spieltage verliefen ohne erwähnenswerte Skandale, doch während des Spiels Finnland — Barbados, da ereignete sich ein Vorfall, der die Disqualifikation der gesamten finnischen Mannschaft und ein Verfahren wegen Totschlags zur Folge hatte. Während des Spiels konnten die Zuschauer auf den Leinwänden verfolgen, wie der Verteidiger Clementine Fenty entlang des Aus auf die Ersatzbank des finnischen Teams zuschritt, dort vor August Sipilä auf die Knie fiel und um seine Hand anhielt. Noch bevor ein gerührtes Raunen durch die Tribünen gehen konnte, war der Torwart der finnischen Mannschaft, Rufus Paasikivi, aufgesprungen und hatte Clementine von hinten in den Nacken gekickt. Er war vorne über gefallen und konnte sich nur die Arme vor das Gesicht halten, während der finnische Torwart mit Fäusten wie Kuhglocken auf ihn eindrosch und August Sipilä ihn, wie wild geworden, anfeuerte.

Liebe im Ballon


Raúl stellte sich Susanna mit einem schiefen lächeln vor. Er trug ein ärmelloses Shirt, das ein paar Arme entblößte, genau nach Susannas Geschmack: Muskulös, aber nicht zu sehr. Arme die nicht nach Hantelbank aussahen, sondern so, als schleppe er Tag für Tag Getränkekisten seiner Nachbarn in den vierten Stock. Raúl führte sie zum Heißluftballon und gab ihr eine kleine Sicherheitseinführung, dann ging es auch schon los. Er zog an einem Seil, warf die Sandsäcke von Bord und dann entfernte sich der Boden. Für einen kurzen Moment vergass Susanna, dass ihr Traummann neben ihr stand, so überwältigend war der Anblick der immer kleiner werdenden Häuser, des glitzernden Rio de Mendoza und der schneebedeckten Gipfeln der Anden. Sie drehte sie sich zu Raúl und ohne nachzudenken, einfach so, weil es aus ihr herausbrach, schlang sie ihre Arme um Raúl und drückte ihre Lippen auf seine. Für einen Augenblick erwiderte er ihren Kuss, dann drückte er sie sanft von sich und strahlte sie an. Das hätte wirklich noch keiner gemacht, meinte er lachend und Susanna, der so weit weg vom Boden, nichts mehr peinlich war, prustete mit. Raúl lachte lauter und hielt sich den Bauch. Mit der anderen Stütze er sich am Rand des Korbes und geriet derart aus der Fassung, dass ihm ein wenig die Augen austraten. Sein Lachen veränderte sich, wurde rauer, klang wie ein Krächzen. Susanna trat einen Schritt zurück und hielt sich nun auch am Korb fest. Raúl sah auf und das, was vorher ein schönes Gesicht gewesen war, hatte sich zu einer Fratze verzogen. Er griff in den Bund seiner Hose und holte einen Hammer hervor. Er fuchtelte damit ein wenig vor Susannas Augen herum, dann schlug er sich drei mal, mit aller Kraft auf den Kopf. Ein einziger Blutstropfen lief von seinem Haaransatz genau zwischen die Augen, dann sackte er zusammen und blieb leblos auf dem Boden des Korbes liegen.

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